Geschwister behinderter Menschen – Verantwortung fürs ganze Leben?
Dienstag,
1. Dezember 2020
Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung – er soll das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Belange behinderter Menschen stärken und den Einsatz für ihr Wohlergehen fördern. Die LZG nimmt diesen Gedenktag zum Anlass, den Blick zu erweitern und sich den Geschwistern behinderter Menschen zu widmen – denn auch sie befinden sich in einer besonderen Situation und treten im Leben wie in der öffentlichen Wahrnehmung oft hinter ihren Schwestern und Brüdern zurück.
Wenn ein Kind chronisch krank oder behindert ist, ist die ganze Familie betroffen. Angesichts des anstrengenden und manchmal sorgenvollen Alltags geraten die Geschwisterkinder, ohne dass es die Eltern bemerken oder beabsichtigen, leicht in den Hintergrund. Das kann dazu führen, dass sie sehr früh lernen, für sich selbst zu sorgen und so zu besonders selbstständigen Menschen heranwachsen. Es kann aber auch bedeuten, dass sie an Überforderung, überhöhten Ansprüchen an sich selbst und dem Zurückstellen eigener Bedürfnisse leiden – oft bis ins Erwachsenenalter hinein.
Besondere Rolle im Geschwistergefüge
Geschwister chronisch kranker oder behinderter Kinder spüren die emotionale und physische Belastung der Eltern genauso wie die Hilfsbedürftigkeit der Schwester oder des Bruders. Sie wissen, dass die Kapazität der Eltern oft erschöpft ist und machen deswegen viel mit sich alleine aus. Weil sie merken, dass die Eltern schon genügend Sorgen haben, stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse eher zurück, um nicht noch mehr Arbeit zu verursachen. Viele übernehmen bereitwillig Verantwortung, die sie manchmal auch überfordert. Was ihnen fehlt, ist das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen: Immer ist jemand da, der mehr Hilfe und Aufmerksamkeit benötigt als sie selbst.
Diese Konstellation muss nicht nur schlecht sein. Früh die eigenen Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen, macht stark und unabhängig. Viele Eltern berichten, dass sich das nicht behinderte Kind zu einem besonders sensiblen und feinfühligen Wesen entwickelt. Dennoch stellt sich oft heraus, dass die Geschwister gesundheitlich beeinträchtigter Kinder stärker als vermutet unter der Situation leiden.
Unterschiedliche Hinweise auf Belastung bei Kindern
Rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben ein chronisch krankes oder behindertes Geschwisterkind. Studien zeigen: Etwa ein Drittel leidet unter der Situation und gibt eine mittelmäßige bis hohe Belastung an. Die Hinweise darauf sind ganz unterschiedlich. Manche Kinder beginnen sich abzukapseln, sie sind mit ihren Gedanken oft woanders und ziehen sich aus dem Familienleben und dem Freundeskreis zurück. Dies können Anzeichen für eine Depression oder eine Belastungsreaktion sein.
Auch die entgegengesetzte Verhaltensweise ist möglich: Das nicht behinderte Kind reagiert aggressiv und ablehnend oder versucht, durch Provokation auf sich aufmerksam zu machen, weil es ansonsten zu wenig Beachtung erhält. Bei einigen Kindern treten andere Alarmzeichen auf: Plötzlich wiedereinsetzendes Bettnässen, Ausrupfen der eigenen Haare, Nägelkauen oder Essstörungen sind Versuche der Psyche, sich innere Entlastung für eine schwierige Situation zu schaffen.
Wichtig: Regelmäßige Zuwendung und realistische Erwartungen
Für Eltern bedeutet dies, sich immer wieder bewusst und ausschließlich um das gesunde bzw. nicht behinderte Kind zu kümmern. Dazu gehören kleine Rituale, etwa beim Zubettgehen, und Unternehmungen, bei denen es ganz alleine im Mittelpunkt steht. Wichtig sind aber auch altersgerechte Gespräche über die Situation des Bruders oder der Schwester. Selbstverständlich machen sich Kinder Sorgen um die Gesundheit ihrer Familie. Ängste und alle andere Gefühle des Kindes müssen ernst genommen werden und zur Sprache kommen können.
Geschwister behinderter oder chronisch kranker Kinder werden von ihren Eltern oft als Hoffnungsträger gesehen: Unbewusst sollen sie Enttäuschung und Leid kompensieren und Erwartungen und Wünsche der Eltern erfüllen. Das kann zu übertriebenem Leistungsdruck führen, der krankmachen kann. Manchmal werden die Kinder auch überbehütet und z.B. in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt. Dahinter steht die Angst der Eltern, auch ihnen könnte etwas passieren.
Wichtig ist in jedem Fall, dass sich Eltern klarmachen: Das nicht beeinträchtigte Geschwisterkind braucht das Gefühl, sich trotz der besonderen Familiensituation austoben, ausprobieren und frei entfalten zu können – und letztlich seinen eigenen Lebensweg gehen zu dürfen.
Geschwister bleibt man ein Leben lang
Erwachsene Brüder und Schwestern von Menschen mit Behinderung tragen enorm zu deren sozialer Teilhabe bei – eine Leistung, die nur selten gesehen wird. Sie organisieren Urlaube und andere Formen der Freizeitgestaltung, kümmern sich um die Wohn- und Arbeitssituation und übernehmen im Laufe des Lebens immer mehr Aufgaben von den Eltern, bis hin zur rechtlichen Betreuung.
Selbst die Berufswahl kann das Aufwachsen mit einem behinderten oder chronisch kranken Geschwister beeinflussen: Sehr viele Menschen mit dieser Erfahrung entscheiden sich für soziale Berufe. Das ist vermutlich ihren besonderen Fähigkeiten geschuldet, es kann aber auch bedeuten, dass sie sich nicht aus ihrem Verantwortungsgefühl lösen konnten und unbemerkt auf die Verwirklichung eigener Wünsche verzichten.
Beratungs- und Hilfsangebote
Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gibt es Angebote zu Beratung, Austausch und Unterstützung. Verhält sich ein Kind über längere Zeit anders als gewohnt, sind der Kinderarzt oder die Kinderärztin die erste Anlaufstelle. Rat und Unterstützung bieten zudem Familien- und Erziehungsberatungsstellen. Auch Vereine und Initiativen nehmen sich der Geschwister behinderter Kinder an – so zum Beispiel die „Stiftung Familienbande“, die Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche vermittelt.
Für erwachsene Geschwister sind spezielle Angebote eher rar und meist in der Selbsthilfe verankert, so das Netzwerk „Erwachsene Geschwister“. Auch das GeschwisterNetz der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. bietet ein Forum für den Austausch untereinander.
© Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG)
Text: Dr. Beatrice Wagner, www.beatrice-wagner.de, Susanne Schneider, www.freistil-texte.de
Redaktion: Birgit Kahl-Rüther, Mail: bkahl@lzg-rlp.de
Weiterführende Links
Überblick über verschiedene Unterstützungsangebote
Die Stiftung FamilienBande zeigt den Weg zu Menschen und Einrichtungen, die Erfahrung haben in der Begleitung von Geschwistern und ihren Familien.
Tipps für Eltern: Vom Überbehüten und Übergehen
Fernsehbeitrag „Meine behinderte Schwester und ich“
Erfahrungsaustausch unter Geschwistern von Menschen mit Behinderung ermöglich das Forum Erwachsene Geschwister und das GeschwisterNetz der Lebenshilfe
Das Institut für Teilhabeforschung an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, möchte die Lebenssituation von erwachsenen Geschwistern von Menschen mit Behinderung in einer Studie sichtbar machen. Interessenten finden Informationen und den Fragebogen hier
Blogbeitrag „Ich musste immer stark sein“ mit weiteren Links