Nicht immer unbedenklich: Vollnarkosen
Donnerstag,
16. November 2017
Als im Jahr 1846 im medizinischen Hörsaal der Harvard University der Zahnarzt William Morton bei seinem Patienten eine Geschwulst am linken Unterkiefer wegoperierte, war das eine Sensation. Denn vom Patienten kam überhaupt kein Zeichen des Schmerzes und keine Gegenwehr – schließlich hatte er zuvor mit einem von Morton selbstgebauten Apparat Schwefeläther inhaliert und war betäubt. Das war bis dahin einmalig und ist die Geburtsstunde der Anästhesie. Seitdem sind Operationen erträglich und konnten weiterentwickelt werden.
Narkose – ein Eingriff in den Körper
Die Zahl der durchgeführten Vollnarkosen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Bei dem Abwägen, ob eine OP mit oder ohne Vollnarkose durchgeführt wird, ist die Wirkung einer Narkose zu bedenken. Denn nicht nur die Operation an sich, sondern auch die Narkose selbst stellt einen Eingriff in den Körper dar.
Die beiden Hauptrisiken einer Vollnarkose bestehen zum einen darin, dass die Patientin beziehungsweise der Patient nicht mehr aufwacht und zum anderen, dass sich die Person nach dem Aufwachen in einem Zustand der Verwirrung – des Delirs – befinden kann. Schauen wir uns beide Punkte einmal an.
Hohe Patientensicherheit
Unter den geschätzten acht bis zehn Millionen durchgeführten Vollnarkosen pro Jahr gibt es etwa 43.000 Patienten, die nicht mehr aufwachen. Dies hat eine Studie der Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI) im Jahr 2014 ergeben. In dieser Zahl sind aber nicht nur die Narkosetode, sondern auch andere schwere Komplikationen enthalten. Oft ist etwa ein Herzinfarkt während der Operation die Todesursache. Die Narkose selbst führt in Deutschland der erwähnten Studie zufolge bei 73 Menschen pro Jahr zum Todesfall oder einem permanenten Schaden. Auch wenn hinter jedem einzelnen Fall ein tragisches Schicksal steht, so ist diese Zahl, aus statistischer Sicht gesehen, durchaus positiv zu beurteilen. Sie besagt nämlich, dass die Patientensicherheit bei Narkosen in Deutschland sehr hoch ist und wir im europaweiten Vergleich sehr gut dastehen.
Das Delir als Risikofaktor nach der Narkose
Ein bislang öffentlich nicht so bekanntes Risiko bei Vollnarkosen stellt das Delir dar. Ein Delir ist eine organisch bedingte Psychose. Die Betroffenen sehen, hören, fühlen oder riechen etwas, was aber nicht existiert. Hinzu können eine gestörte Orientierung hinsichtlich Zeit, Ort, Situation und auch der eigenen Person kommen. Bei einem Entzug von Alkohol oder süchtig machenden Benzodiazepinen (das sind bestimmte Beruhigungsmittel) sind derartige Zustände auch bekannt. Dieser Zustand, der aus der Schizophrenie bekannt ist, kann sich auch nach einer Operation einstellen. Vermutet wird, dass der Abbau oder Entzug von Narkotika und Beruhigungsmittel das Delir auslösen.
Delir ist eine Organfunktionsstörung
Die Zahlen über das Auftreten eines Delirs beruhen bislang nur auf Schätzungen: Claudia Spies, Professorin für Anästhesiologie an der Charité in Berlin, die zum Delir forscht, vermutet, dass 30 bis 80 Prozent der Menschen nach einem operativen Eingriff und der Behandlung auf einer Intensivstation ein Delir erleiden. Bei Säuglingen liege der Wert sogar bei bis zu 85 Prozent. Im Magazin „Süddeutsche Zeitung Familie“ vertrat die Wissenschaftlerin im Juli 2017 die Auffassung, dass das Delir „die meistverbreitete, schwerwiegendste und am wenigsten bekannte Organfunktionsstörung“ darstelle. Ein Delir kann innerhalb von Stunden oder Tagen wieder aufhören, es kann aber auch Monate danach noch Spuren zurücklassen. Besonders anfällig für ein Delir sind sehr kleine Kinder und sehr alte Menschen. Denn Gehirne, die sich im Wachstum oder im Alterungsprozess befinden, weisen medizinisch Ähnlichkeiten auf.
Was kann man tun?
Eltern oder Erziehungsberechtigte eines Kindes sowie Angehörige eines alten Menschen sollten die Möglichkeit eines Delirs möglichst vor einer Operation ansprechen. Während eines Delirs ist es grundsätzlich wichtig, für die Patientin oder den Patienten eine vertraute Umgebung zu schaffen, ihr oder ihm eine Struktur zu geben und Orientierung zu bieten. Dabei helfen ein Tages- und Nachtrhythmus, vertraute Dinge in der näheren Umgebung und vor allem die Anwesenheit vertrauter Menschen.
Die Forschung arbeitet daran, durch geringere Narkotika-Dosierungen, kürzere Sedierungen und weniger Beruhigungsmittel das Risiko eines Delirs zu vermeiden. Dies darf natürlich nicht zu Lasten einer durchgehenden Schmerzfreiheit und eines Aufwachens während der Operation gehen.
Generell kann jede Person selbst die Anzahl von Narkosen verringern, indem sie nicht auf sogenannte Wunschnarkosen pocht. Hierbei handelt es sich um Vollnarkosen bei operativen Eingriffen, die normalerweise unter Lokalanästhetika gemacht werden, etwa bei Zahnbehandlungen. Auch bei der Überlegung, eine Schönheitsoperation durchführen zu lassen, sollte das Risiko Narkose mit in Erwägung gezogen werden.
© Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG)
Text: Dr. Beatrice Wagner
Redaktion: Birgit Kahl-Rüther
In diesen Kategorien finden Sie Themen, die Sie auch interessieren könnten: